Memories behind the dark
Fanfiction zu "Cyberempathy"

Dumpf drang der Klang der Stahlvorschlaghämmer durch die dunklen Gassen und verschlungenen Wege der Ebene 4. Jeder Hammerschlag ging ihm durch Mark und Bein, er zuckte immer wieder zusammen, als rechne er nicht mit weiterem Lärm. Seine Ohren, scharf wie die eines Luchses, würden sich nie an die permanente Lautstärke hier unten gewöhnen.

Wer war er? Wo war er und vor allem, warum?

Nichts erkannte er wieder. Nichts sah gewohnt oder bewohnt aus. Die gelbe Straßenlampe warf ihr schmutziges Licht in die Gasse, an deren Gabelung er verweilte, ohne eine Ahnung, wieso er gerade hier stand, wohin er unterwegs war und woher er kam. Er blickte sich suchend um und ein Fluch: „Verdammte Scheiße, was soll das“, schoss aus seinem Mund.

Er sah an sich herab. Groß war er, mit kybernetischen Ersatzteilen, die recht hochwertig wirkten. Offenbar ein Weißer und die Stahlkette auf seiner Brust ließ ihn vermuten, dass er entweder cool war oder ein Militär. Aber was zum Henker wollte er hier und vor allem wo war hier?

Er drehte sich bestimmt zum hundertsten Mal im Kreis, immer fluchtbereit und versuchte, zu ergründen, auf welcher Ebene er stand. Die Ebene gehörte zur vertikalen Stadt Skyscrape, dessen war er sicher. Sehr niedrig musste die Ebene auch sein, zumindest unter Ebene 7, denn es war laut, stickig und dreckig. Er wusste nicht, wie lange er sich dort drehte und rumstand, als er angesprochen wurde.

„Wer bist Du? Ich bin Matze, Metallstrebenschweißer im Metallbaugeschwader XZ 1215 Ebene 4! Woher kommst Du, wohin gehst Du?“
Der Mann starrte ihn an und er konnte nur grummeln: „Keine Ahnung, ich weiß es nicht, bin hier aufgewacht. Ebene 4 sagst Du?“


***


Neun Monate waren seit diesem Tag vergangen, neun Monate, in denen ihm drei Erinnerungen zumindest den Namen Rade gaben, ihn wissen ließen, er war wie vermutet Soldat und irgendwie kannte er einen Leon Nr. 1-2515/14. Alles andere lag weiterhin in Dunkelheit, auch wenn sein Herz ziepte bei dem Gedanken an Leon. Er wusste jedoch nicht warum. Emotionen waren irrelevant.

Rade gehörte seit einigen Monaten zum Metallergeschwader XZ 1215, das kontinuierlich die Streben der weiter oben liegenden Plattformen zu reparieren hatte. Er zählte nun zu den Menschen, die unermüdlich Stahl produzierten, um die Festigkeit der täglich wachsenden Stadt zu gewährleisten. Und Matze konnte er tatsächlich einen Freund nennen, eine herbe Männerfreundschaft, und doch war er nicht ganz allein.

Menschen außerhalb des Metallergeschwader XZ 1215 oder zumindest eine Lebensform, die an Menschen erinnerte, sah er selten in dieser Etage des Stadtturmes, der, nach oben breiter werdend, gigantische Ausmaße angenommen hatte. Rade wusste, dass es andere Areas, andere Bereiche gab, und er sehnte sich nach Licht und Luft, vor allem nach Leben.

„Überleben ist alles, was zählt“, murmelte dieser große schwere Mann vor sich hin, denn hier unten gab es keinen Luxus, keine Güter, die über das bloße Bekleiden und Hunger stillen hinausgingen.
Hier unten hieß es - arbeite, iss und schlaf. Denken war nicht erwünscht, oder wurde von vorn herein freiwillig abgestellt. Würde man Emotionen zulassen, in welcher Form auch immer, würde jeder, der halbwegs mit geistiger Gesundheit gesegnet war, das große Jaulen bekommen, würde verzweifeln und den Depressionen zum Opfer fallen.
Rade hatte es versucht, hatte sein Auftauchen auf dieser Ebene wieder und wieder durchgespielt, sich sehr bemüht, schlau aus seinen Erinnerungsbruchstücken zu werden, bis ihn das Gefühl, sich im Kreis zu drehen, fast wahnsinnig werden ließ.

Die Welt, in der er eines Tages einfach aufgetaucht war und nicht wusste, woher und wohin, war dunkel und frische Luft schien nur sporadisch durch große Vertikalventilatoren von einigen – vermutlich Außenwänden – hereinzuwehen. Nie genug, um durchzuatmen. Er sah den Dunst in den Wegen und Gassen, Fäkalien tropften von undichten Rohren, befestigt an den Wänden, auf die schmalen Gehsteige. Beißende Dämpfe, der Gestank nach Ammoniak mit einem Hauch Tod drangen durch jede seiner Poren. Diesen Geruch wurden Bewohner dieser Ebene nie los, da half alles Duschen nichts.

Er schnüffelte an sich und fand wie immer den Hauch des Todes an seinem grauschmierigen Shirt. Alles war dreckig, das wusste Rade, denn nichts wurde unnötig repariert. Die defekten Rohrleitungen, die sich spinnennetzartig durch alle Ebenen der Stadt zogen, wurden solange ignoriert, bis es wieder zu einem Fäkalvorfall kam, die schlammartigen Reste in den oberen Etagen Skyscrapes nicht mehr abflossen und die Menschen lapidar ausgedrückt, in ihrer eigenen Scheiße standen.

Noch drei Etagen bis zur Erdoberfläche - nur noch drei Etagen waren unter Ebene 4, die genauso wichtig und doch noch weniger geachtet waren als die Reparatureinheit der Stahlverstrebungen. Rade zählte von unten. Unten lauerte der Tod.

Ebene 3, die Fäkalentsorgung, lag direkt unter seiner neuen Heimat - der Gestank zog hin und wieder durch die ammoniakgeschwängerte Luft von Ebene 4, unmenschlich und nur mit Gasmaske zu ertragen. Hier arbeiteten die schlimmsten Straftäter, Mörder und Totschläger, die aus dem System der Oberstadt vollständig gelöscht worden waren, was schlimmer war als der Tod, der zumindest die Möglichkeit zu Erinnerungen barg. Hier weilten die lebenden Toten, die irgendwann einfach in die großen Restebecken fielen und nie wieder gesehen wurden.

Ebene 2 noch darunter enthielt die Krematorien der Oberstadt und gleichzeitig somit die Aufarbeitungsabteilung der kybernetischen Körperteile, die, grob geputzt, zurück in den Handel und das in Ebene 7 ansässige Reparaturgeschwader geschickt wurden. Verschwendung konnte sich niemand leisten. Platin und Gold, leitende Edelmetalle und Erze waren Mangelware und nur, was die Arbeiter der Ebene 1 aus dem kargen Boden der Erdoberfläche noch ausgraben konnten, wurde dem Kreislauf zugeführt. Rade wusste um die Aufgabe der Ebene 2, jeder wusste davon und jeder mit einem Funken Hirn, mied Ebene 2.


***


Die Dunkelheit warf Schatten, nur kleine Funzellichter flackerten auf den Straßen der 4. Ebene, gerade hell genug, um aus dem schrankgroßen Apartment zur Arbeit zu finden und wieder zurück ins Bett. Einen größeren Aktionsradius hatte hier ohnehin niemand. Das Leben, meist endete es bereits in den Vierzigern wegen Erschöpfung und Auszehrung, war jenseits der Ebene 6 karg, gefühlskalt, die Menschen meist hungrig.

Durch diese Ebene 4 schritt er, wie jeden Morgen, langsam, behäbig, als glaubte er, etwas verloren zu haben auf dem Weg zur Arbeit an einer großen Schweißnaht eines der Hauptstahlträger. Wie jeden Morgen, kurz an der Laterne stoppend, erweckte er den Eindruck, als wäre die Leuchte, die ihr gelbes schmutziges Licht in eine Gasse sandte, der Dreh- und Angelpunkt seiner Welt.

Hier war er „geboren“, zumindest fühlte es sich so an, denn ab hier hatte er die ersten Erinnerungen an Licht, an die Ebene und an Matze. Mehr oder weniger lebende Gestalten, die den viel beschriebenen Zombies glichen, quatschten ihn auch heute wieder an wie damals, baten ihm um Essen oder Zigaretten und jedes Mal zog ein kalter Schauer über seinen Rücken, wenn er Quetschungen sah, und erkannte, dass Amputationen, nur nach dem Motto– erhalte die Arbeitskraft, Optik ist irrelevant - durchgeführt wurden. Rade selbst hatte auch kybernetische Gliedmaßen und Ersatzteile. Und doch, wenn er sich mit „denen“ verglich, dann fiel ihm auf, dass seine Teilstücke deutlich hochwertiger waren als die der „anderen“. Immer wieder überfiel in die Sehnsucht nach Licht, Luft und vor allem nach … Er konnte dem Ganzen keinen Namen geben, es gab keinen.

Rade blickte in die kleine Seitenstraße, schien sich an etwas zu erinnern. Die Augen wirkten müde, verschleiert, so als hätten sie über Jahre hinweg alles Leid dieser Stadt sehen und ertragen müssen. Der Mann schüttelte vehement den Kopf und ein leises „Leon“ schlüpfte wieder über seine Lippen.

Leon, das war das Einzige, was er erinnerte, ein Name, Schall und Rauch und doch streifte ihn eine Wärme im Magen, die diesen, immer noch leer, vor Freude auf glucksen ließ. Rade wusste nicht, wer Leon war, hatte keine Erinnerungen an ihn, nur der Name schwirrte in seinem Kopf herum. Ein unsicheres Gefühl durchzog ihn, ein Grummeln im Bauch, ein Sehnen in seinem Herzen, das er nicht zuordnen konnte. LEON.

Wer war Leon, und warum schoss ihm dieser Name immer an dieser Stelle, an der Ecke dieser Gasse in den Kopf? War er schon hier gewesen, kannte er einen Leon? Er bekam keinen klaren Gedanken zu fassen.

Erinnere Dich - Leon Nr. 1-2515/14 - 1-2515/14

Zahlen, immer wieder die gleichen Zahlen schlichen durch seine Gedanken, fast in sein Herz und es fühlte sich an, als vermisse er irgendwas. Er konnte sich nicht erinnern, was es war. Wie lange arbeitete er hier schon? Auch das schien im Nebel zu liegen. Seine Erinnerungen begannen erst vor 9 Monaten, hier in dieser Ebene an der Lampe und dann in seiner kleinen Wohnung. Wo war der Rest seines Lebens hin?

Er schätzte sich selbst auf Mitte 30, war kybernetisch gut ausgestattet und die Teile waren hochwertig. Etwas war geschehen. Seit Tagen oder gar Wochen, genau wusste das hier unten niemand, waberten Gedanken, Nebelschwaden gleich durch sein verwirrtes Hirn. Es zuckten Blitze auf, Namen und Zahlen, die keinen Sinn ergaben, so sehr er es auch versuchte, diese in eine schlüssige Reihenfolge zu setzen.

Diese Gasse.
Das Licht.
Leon – zu dem er weder Erinnerungen noch ein Gesicht hatte.
Freude – eine ihm ungewohnte Emotion.
Das warme Ziehen in der Brust, das als Emotion noch viel unheimlicher und beängstigender war, kaum fassbar und scheinbar ziellos - und doch war es da…
Verdammt, was war hier los, was stimmte hier nicht?

„Rade, los Mann, wo bleibst Du, der Aufseher macht schon Terz, komm endlich. Was hängst Du denn schon wieder an der blöden Laterne? Blitzt sie schon wieder?“, blubberte ihn Matze voll.

Matze war wie Rade. Groß, mit kybernetischen Armen, das Gesicht voller Narben und das Herz frei von Emotionen. Zumindest tat er gern eiskalt. Jedoch allein die Suche nach Rade in diesem Moment strafte seine Aussage Lügen.

„Sag mal, was ist mit Dir, Du wirkst verstört. Ist es was Ernstes?“
„Nee, ich glaub nicht. Aber immer wieder sehe ich Gedanken vor meinem geistigen Auge aufblitzen, die ich nicht zu fassen bekomme. Erzähl mir bitte noch mal, wann bin ich hier gelandet und wie? Irgendwas passt nicht zusammen, da wurde an meinem Hirn herumgematscht. Ach und ja, du erinnerst Dich vielleicht an 1-2512/14? Was bedeutet das?“

„Rade, jetzt los, arbeiten, ich erzähl es Dir heute Abend noch einmal und immer und immer wieder, so oft wie Du es hören willst. Nur denke ich nicht, dass ich Neuigkeiten berichten kann, die ich nicht schon zehnmal erwähnt hätte. Ich verstehe ja Deine Gedanken. Na ja, egal, ich hoffe, Du hast ‘n Bier.“


***


Die Stunden schienen dahin zu schleichen, in Rade wuchs die Unruhe. Endlich greinten die Feierabendsirenen, ein Heulen drang schon lange nicht mehr aus den vergammelten verbeulten Lautsprechern auf dem Schweißfeld.

Rade nickte Matze zu und beide putzten sich grob den Staub von den Hosenbeinen und traten den Heimweg in Rades Miniappartement an. Kaum zur Tür herein, reichte Rade das Bier an Matze, der erst mal einen ordentlichen Schluck aus der Pulle nahm. Beide Männer schwiegen, tranken ihr Gebräu, das den Namen Bier nicht verdiente, aber das Beste was, was es hier unten gab. Leise begann Matze, wie schon x-mal zuvor, mit der Wiederholung der Tatsachen.

„Wie ich Dir schon oft gesagt hatte, warst du irgendwann plopp einfach da. Du standest, für diese Ebene ungewöhnlich sauber an eben dieser Ecke, an der ich Dich auch heute früh abgefangen habe und hast immer den gleichen Satz gemurmelt. „Leon?“ Du sahst dabei so verstört aus, dass ich nicht anders konnte, als Dich aus dem Blickfeld der Aufseher zu ziehen und hierher in dieses frei stehende Loch, gegenüber meiner Wohnhöhle zu ziehen. Du hast Löcher in die Luft gestarrt und Deine Augen waren, fast wie heute Morgen grauweiß verschleiert, als lebte Dein Geist auf einer anderen Ebene. Du hast nur „Leon, warum“ und „das muss doch eine andere Lösung geben“ und „1-2512/14“ gebrabbelt, sonst nichts. Du kanntest Deinen Namen nach mehrmaligen Nachbohren meinerseits, aber weder Deine ID noch wie alt Du bist, was Du kannst oder mal gelernt hast. Nur dass Du Soldat warst, hast Du vermutet, Du trugst eine Stahlkette. Keinen Beruf, keine Adresse, ja nicht mal eine Ebene konnte ich Dir entlocken. Aber das hab ich Dir schon oft gesagt. Verwunderlich war nur, dass Du sauberer warst als jetzt – Alter, Du stinkst.“

Matze lachte auf und Rade fiel, leicht peinlich berührt, an sich schnüffelnd, in das Lachen mit ein.

„Ich bin also mit Dir zum Chef und habe mit dessen Erlaubnis ausgetestet, was Du kannst und wir stellten fest, Du bist Metaller. Daher kannst Du schweißen. Aber sonst Rade, sonst bist Du frei von Emotionen und Erinnerungen. Bis auf das Gemurmel der Nummer und des Namens Leon. Aber Du sagtest von Anfang an, Du hast Blitzlichter in Deinem Kopf. Das brachte mich auf die Idee, dass Du ein Erinnerungsgelöschter sein könntest, ein Neutraler. Irgendwas ist aber falsch. Dennoch ist erkennbar, wenn man genau zuhört, dass jemand an Deinem Hirn herumgewurschtelt und wer weiß was gelöscht hat. Warum? Aber was frag ich Dich, Du weißt noch weniger als ich.“ Er wippte mit dem Kopf hin und her, es sah aus, als würde er nachdenken. „Rade, Deine Erinnerungen wurden manipuliert. So weit ist es klar.“

Matze sah mich mit großen Augen an und schien plötzlich ganz aufgeregt, als hätte er eine unglaubliche Idee, die er bisher noch nie hatte.

„Ein Neutraler, Leon, Erinnerungen, irgendwie ergibt das Sinn. Aber was davon ist real?“, flüsterte Rade.
Matze sprang auf.
„Soooooo ein Rotz, warum komme ich da erst jetzt drauf, verdammte Axt, ich bin aber auch dämlicher als Schifferscheiße, Jaaaazz. Mann, das hätte mich früher einfallen müssen, die Kleine kann doch…. Los komm mit, Alder, das Gelöschte lässt sich doch zurückholen, ich oberdämliches Rindvieh. Ich bring Dich zu Jazz.“
„Wer ist denn das?“, ein unwohles Rappeln stellte sich in Rades Eingeweide ein.
„Sie ist eine Art Medium, eine gefallene Erinnerungskonstrukteurin der Oberstadt, die erkennen kann, wo und wie in deinem Hirn rumgepfuscht worden ist. Das Warum erschließt sich dann oder Du kannst selbst herausfinden, was passiert ist. Los steh auf, komm schon mach jetzt, Mensch das mir das in den letzten Monaten nicht eingefallen ist, ich bin aber auch vernagelt.“

Vollkommen aufgeregt rannte Matze die Treppe hinab, über die Gasse, auf der anderen Seite hinauf und durch Wege und Stege zwischen den heruntergekommenen Bauten hindurch, die den Namen Haus keinesfalls verdienten. Schnaufend und japsend, was sicher auch der verbrauchten Luft hier unten geschuldet war, bremste er abrupt vor einem schmutzigen Fenster ab, sodass Rade, der das zu spät bemerkte, heftig in seinen Rücken knallte.

Matze kratzte in einem bestimmten Takt an der Scheibe und von drinnen klang eine glockenhelle Stimme: „Komm rein Matze und bring den anderen Jungen auch mit.“
Rade schien gehörig verstört und sah sich um.
„Sie ist einfach göttlich mit ihrem sechsten Sinn“, säuselte Matze.
„Den Du, Du blödes Rindvieh, offenbar nicht hast, vergisst Deine gute Freundin Jazz“, kam es postwendend aus der Wohnung hinter den Gardinen, die in Fetzen hingen.

Durch das Fenster hereingeschlüpft, stockte Rade der Atem. Ein Mädchen, ganz in Hellrosa gekleidet, saß im Schneidersitz auf einem Kissen auf einer Kommode. Sie schien höchstens 15 Jahre alt und doch sprachen ihre Augen von einer Lebenserfahrung mehrerer Generationen.

„Setzt Euch, Du da, Neutraler, Du setzt dich mir gegenüber, ich will Dich sehen und erkennen, wer Du bist.“
„Ich bin Rade“, flüsterte er und wusste doch nicht mehr über sich.
„Jaja, das mag sein, ich bin Jazz, aber wer bist Du, Rade, was kannst Du, warum bist Du hier?“, säuselte sie. „Nun, das müssen wir dann mal herausfinden, Junge oder? Und ja nu guck nicht so, ich weiß, ich sehe aus wie 15 Jahre alt, das haben die Kyberneten so gebaut, ich bin mittlerweile runderneuert“, sagte sie kichernd, „Glaub mir, ich bin runde 185 Lenze auf dieser Welt und habe schon den Anfängen dieser Koloss-Städte beigewohnt. Nur will man keine Zeitzeugen haben und so bin ich hier unten gelandet.“
„Aber wegen mir seid ihr nicht hier, oder? Du willst wissen, wer Du bist. Verrate mir eines, Rade. Bist Du bereit, Schmerz, Angst, Leid, Liebe und alle Emotionen zu ertragen, wenn Du die Wahrheit erfährst? Bist Du bereit, Ruhe zu bewahren und erst nachzudenken, bevor Du handelst? Denn es könnte alles zerstören, was wir hier aufgebaut haben? Versprich es mir.“

Jazz sah ihn skeptisch ganz genau in die Augen, als stünde darin die Wahrheit.
Rade schluckte. Was hat das zu bedeuten, was weiß sie, was er noch nicht erkannte, warum Emotionen und warum schien er für Matze und sie zu einer Gefahr zu werden?
Er nickte und flüsterleise drangen die Worte scheinbar direkt aus seinem Herzen: „Ich werde bedacht handeln, wenn es etwas zu handeln gibt, ich verspreche es, aber bitte, sag mir, was passiert ist.“

„Gut! Du hast bereits von Matze gehört, Du bist ein Neutraler. Typisch ist für diese Menschen, dass sie einfach irgendwo auftauchen, da sind und nicht wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen sollen und vor allem, wer sie sind. Aber was ist bei Dir anders?“
„Leon, 1-2515/14“, immer wieder murmelte Rade das leise vor sich hin, während er Jazz skeptisch in die Augen sah und Minuten vergingen, als wären es Stunden. Rade ließ sich auf den Boden in den Schneidersitz fallen und murmelte immer wieder „Leon, 1-2515/14.“
„Hm“, sagte Jazz, leise, bedacht darauf, den Neutralen nicht zu schockieren. „Ja Leon, den kenne ich – das ist ein Erinnerungskonstrukteur.“ Sie tippte immer wieder mit dem Zeigefinger gegen ihre Unterlippe und schien tief nachzudenken.
„Wenn er das war, dann war es keinesfalls eine Auftragsarbeit und schon gar nicht professionell. Die Zahl Rade, die du brummelst - er hat seine Bürger - ID in deinem Hirn hinterlassen, das tun diese Konstrukteure eigentlich nicht. Niemals, denn man kann es zurückverfolgen.“
„Es sei denn?“, Rade zog das deeeeeeeeeeeeeeeeenn sehr in die Länge und schien mehr neugierig als verwirrt. „1-2515/14, Leon, irgendwie ist mir das unlogisch. Wer ist er, warum sollte er das getan haben?“
„Das ist nicht logisch, sondern unprofessionell. Es wird sogar als verheerender beruflicher Fehler angesehen, seine ID zu hinterlassen. War er in Eile oder…?“

Jazz räusperte sich hart und verdrehte die Augen. Ihre Finger trommelten heftig auf der Kommode neben ihrem Sitzkissen und plötzlich riss sie die Augen ganz weit auf:
„Rade, verdammte Scheiße, mit kommt da so eine Idee. Hier stimmt was nicht. Lass mich tiefer sehen, ich versuche, die Blockade zu lösen. Wenn, und ich verspreche nicht dass, aber wenn, das, was ich denke, zutrifft, dann stimmt hier was ganz und gar nicht und irgendwer ist in großer Gefahr. Also rutsch näher, ich muss sehen.“

Jazz legte zwei Finger der rechten Hand an Rades linke Schläfe und die der linken Hand an seine rechte Schläfe und schloss die Augen. Minutenlang herrschte Stille. Rades Kopf durchzuckten Erinnerungen an Klein-Rade, an eine Kindheit und Jugend, an einen Soldaten und an das Gesicht eines jungen Mannes, der schemenhaft, wie Nebel durch die Optik zu schweben schien, ohne Gestalt anzunehmen. Bernsteinfarbene Augen schienen ihn zu beobachten.

„Leon“, flüstere Rade und gerade, als sich die Gesichter in seiner Erinnerung näherten, krachte es in Rades Ohren, Schüssen gleich knallten Fetzen durchs Hirn, wie Mündungsfeuer durch die Dunkelheit.
Rotes Licht blitzte auf, sodass Rade zusammenzuckte. Doch Jazz Finger ließen nicht los, hielten ihn fest und in der Spur.
„Krieg“, flüsterte Rade, „wir müssen weg hier. Sie schicken noch mehr von den Goliaths.“
Schlagartig ließ Jazz ihn los und starrte ihn mit riesigen Iriden an.
„Rade, der Krieg währte nur wenige Tage, die Goliath suchten nach den Verrätern der oberen Ebene und verbannte diejenigen, derer sie habhaft wurden, in Ebene 3 oder noch schlimmer, in die Bergwerke der Ebene 1. Es sind rund 9 Monate vergangen, seit der Angriffe der Goliath, gesandt von der obersten Ebene der Regenten unter dem Deckmantel einer ruhigen und ausgeglichenen Gesellschaft, die die Cyberempathy zu lieben gelernt haben. Rade, ich muss tiefer graben. Das kann wehtun, halt still.“
Rade biss die Zähne zusammen, hielt den Kopf still, und Jazz löste eine um die andere Erinnerung aus, löschte die Blockaden und trieb Rade weiter und weiter in den Erinnerungen voran.
„Genug“, stöhnte Rade, einer Ohnmacht nahe, „genug, ich weiß alles, verdammt, warum hat er das getan, unglaublich.“

Immer und immer wieder schüttelte Rade den Kopf, Nässe beträufelte seine Wangen, Tränen verließen sein Inneres. Er wusste alles und noch so viel mehr. Matze und Jazz ließen ihn weinen, streichelten ihn beruhigend, bis die erste Trauer in Zorn auf die Goliath, inklusive Schimpftiraden, als auch dann in Resignation und in die Frage nach dem Warum umschlugen.

„Rade, berichte uns, vielleicht können wir helfen, die Gedanken neu sortieren, in ein rechtes Licht rücken“, flüsterte Jazz, während sie von oben, von ihrer Kommode aus Rades Kopf tätschelte.
„Also“, hub Rade an „Ich stand mit Leon auf dem Balkon oberhalb meines Appartements in Ebene 7. Der Versorgungsebene. Noch waren wir im Gespräch vertieft, über seine Menschlichkeit, die weitaus größer war, als er dachte, über seine Emotionen, die er fühlte und doch nicht wahrhaben wollte, als die Goliath angriffen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie er flüsterte ‚sie kommen‘ und dann …“, er brach unerwartet ab.
Noch den Kopf schüttelnd, ergriff Jazz das Wort. „Sie suchten in einer Großaktion den verschwundenen Thronerben der goldenen Oberstadt, Rade, ich glaube nicht, dass ihr das Ziel der riesigen schwarzen Dinger gewesen seid. Dennoch war es ohne Zweifel sehr gefährlich und es war gut, die Ebenen zu wechseln.“
Rade flüsterte, kaum noch zu verstehen.
„Er berührte meine Schläfen, genau wie Du gerade Jazz. Dann war's dunkel und ich wurde an dieser Laterne wach und wartete und wartete und tagelang passierte nichts … Aber ich verstehe das nicht, wenn doch er nicht das Ziel der Goliath gewesen sein kann. Ich verstehe es nicht.“ Verzweiflung schien ihn geradezu zu überrennen.

- ACHTUNG SPOILER -

„Rade, hier denke ich, kam Leons Menschlichkeit zum Vorschein. Er mag ein Android sein, wie er Dir sagte. Aber er ist ein fleischlicher Android und das ist, was die „Schöpfer“ dieser Wesen nicht bedacht haben. Menschlichkeit liegt in der DNA, in Herz und Verstand und entwickelt sich mit den Erfahrungen der Wesen. Man kann Emotionen steuern, aber sie verselbstständigen sich auch oft. Offenbar hat Leon gelernt, zu lieben. Dich zu lieben. Sehr fortschrittlich, wenn Du mich fragst. Er hatte Angst, Angst Dich zu verlieren. So wie ich erkennen kann, fand die Programmierung erst vor gut 9 Monaten, kurz bevor Du hier aufgetaucht bist, statt. Ich habe eine ungefähre Ahnung, wo er sich verkrochen haben mag, wenn er noch am Leben ist. Angst ist eine der stärksten Emotionen, gepaart mit Liebe das stärkste Empfinden überhaupt. Kybernetische Erinnerungskonstrukteure können damit ohne Anleitung nicht umgehen, mögen sie auch noch so gut sein. Er war überfordert. Emotionen dieser Stärke, die Liebe zu Dir und die Angst, dich an die Goliath zu verlieren oder Dir auch nur nochmals den Schmerz zuzufügen, den ich in Dir lesen konnte, als Du an Leon gedacht hast, wird ihn in allen Synapsen seines Hirns gefoltert haben. Vielleicht deshalb der Fehler seiner ID oder…. Ruht aus und ich werde mich mit meinesgleichen aus den verschiedenen Ebenen auseinandersetzen, vielleicht erfahre ich, wo sich 1-2515/14 aufhält.“

Rade sank, gefangen in seinen eigenen Emotionen, in sich zusammen und immer neue Tränen benetzten seine Wangen.
Was war in den neun Monaten mit ihm passiert, was empfand Leon tatsächlich für ihn. Wo war er und ging es ihm gut? Am liebsten wäre er losgestürmt und hätte alle Ebenen zu Fuß und allein abgesucht, nach Leon, nach seiner Vergangenheit und ja, auch nach der Liebe, die er zweifelsohne empfand beim bloßen Gedanken an seinen 1-2515/14.
Er hatte es versprochen, hatte hoch und heilig geschworen, Vernunft walten zu lassen und sich nicht in Gefahr zu begeben. Er musste warten und hören, was Jazz von ihren Kontakten erfahren hatte. Er hatte es versprochen und ein Soldat Rade brach seine Versprechen nicht.


***


Zeit verging, langsam, zäh, wie Sirup zogen sich die Stunden in die Länge, in denen Jazz entweder telepathisch Leute kontaktierte und leise, zu leise, um etwas zu verstehen, vor sich hin murmelte oder in eine Art Handy brüllte, das es Rade die Nackenhaare kräuselte. Stunde um Stunde schlich dahin, bis Jazz sogar Matze zum Schlafen nach Hause schickte und ihn bat, Rade morgen krank zu melden. Dieser dampfte widerwillig ab, nicht ohne Rade kurz an sich gezogen und übertrieben männlich tief „viel Glück, Kollege“, gemurmelt zu haben.

Zeit plätscherte weiter dahin und Jazz schien in einen tiefen Schlaf gesunken zu sein, denn es folgten bald keine Reaktionen mehr. Auch Rade nickte immer wieder ein. Es war warm und der Teppich bei Jazz war bequem, fast wie Rades durchgelegene alte Matratze in seiner winzigen Schrankwohnung. Stille legte sich über Jazz‘ Behausung und die Zahlen 1-2515/14 kreiselten bis in einen leichten Schlaf in Rades Hirn. Er seufzte hin und wieder auf.

Niemand weiß, wie viel Zeit vergangen war, als ein ohrenbetäubender Knall Rade aus dem Schlummer schreckte und ein dazu gejauchztes „Er leeeeeeeeeeebt“, durch die Wohnung zog.
Jazz quasselte sofort unkontrolliert los: „Er schickt schon länger ein Notsignal durch verschiedene Ebenen, immer wieder zieht „HELP“ durch die Gedanken der Eingeweihten. Alle meine Kontakte haben den Ruf in den letzten Stunden vernommen, aber nur wenige konnten die Quelle orten. Der Ruf war über viele Tage zu hören, berichten meine Leute, aber er wird täglich schwächer. Meine Kontakte mahnen zu großer Eile. Vielleicht … die Intensitätszunahme Deiner Flashbacks grade jetzt … ein Aufbegehren der Seele? Leon scheint seine letzten mentalen Kräfte aufzubringen, um Dich zu rufen.“
Rade erkannte im erstem Moment, vollkommen verschlafen, weder wo, noch wer er war, bis Jazz erneut zu sprechen begann und ihn an der Schulter kräftig durchrüttelte.
„Rade, Du bist hier, weil ich deine Neutralität aufheben konnte. Du bist ein Soldat von Ebene 7, der mit dem Erinnerungskonstrukteur Leon Nr. 1-2515/14 vor den Goliath geflohen war. Du erinnerst Dich jetzt.“
Fetzen, Abfolgen von Ereignissen, die Zahl, Leons Name und all dieses zog binnen Millisekunden durch Rades Hirn und ließ ihn bis zum Zerreißen gespannt, in Jazz‘ Augen starren.
„Du hast ihn? Was soll das heißen?“, faselte er.
„Ja, meine Kontakte haben alle Ebenen unterhalb der 7 gescannt und durchsucht und nichts gefunden und ich war schon beunruhigt, das er in Ebene 2 gelandet sein könnte und assimiliert worden ist. Doch seine Signatur war immer noch im Cybernet gespeichert, was darauf schließen ließ, dass er noch nicht eingeäschert worden ist, bzw. er scheint ja ein fleischlicher Android zu sein, nicht vollständig auf null gefahren worden ist. Wir – meine anderen Konstrukteure und, nennen wir sie die Maulwürfe, es ist besser, wenn Du nicht zu viel weißt – waren sich sicher ihn noch zu hören. Er lebt noch und sie haben alles auf mentaler Ebene abgesucht und … sie haben ihn gefunden. Niemand ist jedoch bereit, da hinab zu steigen. Los jetzt, wir gehen. Es sieht nicht gut aus, die Rufe werden schwächer, die kognitiven Signale in den Erinnerungssequenzen der Cyberebene reißt immer wieder ab. Wir müssen uns beeilen, aber er lebt.“
Rade konnte nicht anders, als Jazz anzustarren, wie ein Wolf ein Beutetier. Es schien, als wäre er direkt auf Angriff programmiert, während er versuchte, das Zittern aus seiner Stimme zu nehmen:
„Wo?“
Mehr konnte er nicht artikulieren, ohne die Fassung zu verlieren.


***


„Ebene eins, die Maulwürfe sagen mir immer wieder, sucht auf Ebene 1“, flüstere Jazz, und zusammen betraten sie durch einen winzigen Gang hinter den großen Abraumbaggern einen Flur oder Stollen, der dort seit Anbeginn der neuen Zeitrechnung der Stadt Skyscrape vor sich hin rottend wie ein Mahnmal davor warnte, die Maschinen nochmals unkontrolliert einzusetzen und die halbe Erdoberfläche zum Einbrechen zu bringen.

„Verdammt, die haben viel zu viel gebuddelt, die Menschheit musste ja immer höher hinaus, statt lieber in die Breite zu bauen und die Natur aufzuforsten. Man hätte lernen können. Schon der Burj Khalifa, der vor Beginn der neuen Zeitrechnung erbaut worden ist, anno 2010 ist mit seinen 828 Metern bis zur Spitze viel zu hoch und doch im Vergleich zu Skyscrape nur eine Hundehütte.“

Rade hörte Jazz‘ Ausführungen, nahm sie wahr, während sie Gang um Gang, Stollen um Stollen abgingen und suchten und doch drangen andere Gedanken durch seinen Geist und er hatte das Gefühl, Leon nun selbst im Geiste rufen zu hören. Rade schlich an vielen weiteren Maschinen vorbei, Jazz blieb hinter ihm, nur noch flüsternd und alle Sinne beider waren konzentriert, wie die von Raubtieren auf der Jagd. Jazz stolperte über Felsbrocken, Rade patschte in Rinnsale voll Fäkalien, die hier aus den oberen Ebenen ebenfalls durchsickerten und sie wankten durch dunkle Abschnitte, die nicht nur nachtfinster waren, sondern den Eindruck erweckten, direkt in die Hölle zu führen.
Es war nicht nur das fehlende Licht, was störte, sondern auch das Wissen, mehr als zwei volle Kilometer Stahl, Körper, und was auch immer über den Köpfen zu haben. Kurz, beide kämpften mit einer stärker werdenden Todesangst.
Diese Angst, eine der stärksten Emotionen eines Menschen, soweit zu unterdrücken, dass man handlungsfähig blieb, war eine Mammutaufgabe. Doch schien sich Rade mit jeder Körperzelle an seine Zeit als Soldat zu erinnern, er spannte die natürlichen Muskeln und auch die kybernetischen Stahlverbindungen seiner Arme an, hielt kurz inne, lauschte, nach außen, nach innen und fasste sich.

„Ich bin Rade, ich bin ein Soldat, ich werde Dich finden, lebend.“

Er schien in einen Kampfmodus geschaltet zu haben, denn der eben noch gebrochen wirkende Rade mit den müden Augen hatte sich aufgerichtet, nahm Jazz bei der Hand und schritt mutiger und überzeugter voran, als je zuvor.

Die Ecken und Gänge schienen immer länger zu werden und vor ihnen zeigte sich ein großes breites NICHTS. Plötzlich, mitten im Lauf, hielt Jazz inne, stand wie eine Eins und lauschte. Rade tat es ihr gleich, alle Sinne zum Zerreißen gespannt.

„Da, da hörst Du das? Siehst Du ihn?“, krächzte Jazz und zeigte vor sich in die Dunkelheit.

Rade wirkte wie ein Pfeil in einer Armbrust, kurz vor dem Abschuss, und nahm Fährte auf. Ein leises Keuchen drang an sein Ohr.

„Da vorn, nach der nächsten Biegung rechts, ich kann ihn fühlen und hören, er ist kaum noch am Leben, Rade los, lauf, finde ihn“, kreischte Jazz.

Rade zögerte keine Sekunde, rannte los und nur wenige Zehnermeter hinter der Biegung sah er einen Körper, zusammengerollt, am Boden, japsend, keuchend und immer wieder murmelnd: „ Rade, tot, gleich, abschalten, tot. Leon Nr. 1-2515/14“
Rade ließ sich neben den Körper fallen, der blass, ausgezehrt und nunmehr kaum noch lebendig vor ihm lag und riss ihn in seine Arme.
„Leon, nicht tot, Du stirbst jetzt nicht! Ich habe Dich gefunden, Du bist mein. Du wirst nichts abschalten, sondern leben, mit mir leben, komm schon Junge, atme, lebe.“
Leon röchelte, schnaufte und …
Öffnete seine bernsteinfarbenen Augen für einen Moment.
„Rade, wie gern ich Dich noch mal sehen würde – ich liebe Dich!“
Er fiel schlaff zurück und die Atmung wurde flacher.
Rade packte die Panik, er schrie nach Jazz, die sich in diesem Moment neben ihm nieder ließ und den Kopf Leons zwischen die Finger nahm und ihm eine Art energetischen Schlag zu verpassen schien. Offenbar waren teilfleischliche Androiden wie Jazz dazu in der Lage, fast wie in den 2000er Jahren ein Defibrillator.
Der Körper Leons zuckte auffällig zusammen, er stöhnte und schnaufte.

Rade schüttelte ihn und flüsterte immer wieder: „wach auf, sieh mich an, ich bin da, wir haben Dich gefunden.“
An Jazz gewandt murmelte er: „Danke, 1000 Dank.“
„Dank mir nicht zu früh, wir müssen hier raus, höher, er braucht Luft und etwas Licht, sonst ist es dennoch zu spät.“

Das ließ sich Rade nicht zweimal sagen, schnappte Leon und warf sich das Fliegengewicht über die Schulter und alle traten in zügigen Schritten den Weg auf Ebene 4 zurück an. Weit gingen sie nicht, da rumorte es im Stollen und Teile der Wände schienen einzufallen. Rade zuckte zusammen, hielt Jazz hinter sich und Leon fest an sich gedrückt.
Geräusche zogen durch die Gänge, die nichts Gutes verhießen. Ein Scharren und Schaben, ein Quietschen und Ächzen klang durch den Stollen, das Rade das Blut in den Adern gefrieren ließ, und Jazz ein „verdammte Scheiße, doch nicht hier und jetzt“, entlockte.

Leise murmelte Leon, als wäre er nicht bei sich: „Rade, wäre ich nur bei Dir geblieben.“
Und jedes Mal antwortete Rade wispernd sanft: „ Ich bin da, Du bist bei mir, bleib Leon, wir schaffen das. Wir müssen hier weg.“
Im selben Moment hörte er Jazz hinter sich aufstöhnen: „Scheiße, was will der hier? Rade, zurück, hier lang, weg, das ist ein Goliath. Was will der?“

Offenbar hatte auch dieser die Signale von Leon Nr. 1-2515/14 aufgefangen und schien seinen Auftrag beenden zu wollen…


***


Die Gänge zogen sich in die Länge, der Goliath folgte ihnen offenbar bis in die tiefsten Stollen.

„Kommen wir da vorbei? Oder geht es hier weiter?“
Verzweifelte Fragen, die auch Jazz nicht zu beantworten vermochte.
Minuten vergingen, Leon wurde immer schwächer und schwerer, die Körperspannung schien gänzlich dahin.

Jedes Röcheln schien aus seinen Tiefen zu kommen und den nahen Tod willkommen zu heißen. War alles umsonst? Gab es keine Rettung? Kein Rade und Leon, sondern nur noch grausame Erinnerungen? Rade konnte und wollte dies nicht akzeptieren und stolperte mit Jazz hinter sich weiter durch die Stollen, ohne Führung, ohne zu wissen, wohin.
„Laufen, nur laufen“, immer wieder flüsterte Rade die Worte, während Leon auf seiner Schulter bereits still war und Rade nicht wusste, ob er überhaupt noch lebte.

Um eine Ecke biegend, schreckte sie ein Scheppern auf, ein Knallen, das aus dem dunklen Stollen vor ihnen zu kommen schien. Ein weiterer Goliath, dann war alles zu Ende, die Geschichte Leon und Rade würde diesen Stollen nicht verlassen.
In diesem Moment vernahm Rade ein Wispern, Knacken und Schnarren, das ihn zu rufen schien, „Rade, Jazz, hier lang, schnell hier hoch, kommt.“

Aus der Dunkelheit tauchte ein funzeliges Licht auf und dahinter ein Gesicht, das schon einmal direkt vor Rades Augen aus der Dunkelheit auftauchte.
Matze.
Er blickte durch einen Gullydeckel in der Stollendecke und gleichzeitig kam der Befehl: „Vorsicht, Leiter fällt.“
Eine Strickleiter purzelte vor Jazz und Rade aus dem Schachtdeckel.
„Kommt schon, hier oben sind alle tot oder so gut wie oder es ist ihnen egal und ein Goliath ist hier auch nicht, also hoch mit Euch.“ Matzes Stimme klingt forsch, befehlend und schien doch die Rettung.

Ebene 2, die Krematorien, war erreicht. Rade setzte Leon sacht ab und sah Jazz an, die eine komische Kälte in den Augen hatte, als sie Leon ansah. Kein Funken Mitleid zeigte sich in diesem Moment, keine Emotion, die logisch zu nennen wäre, eher sogar ein diabolisches kleines Grinsen. Irgendwie … zufrieden.

„Ich empfange keine Lebenszeichen mehr Rade, Erinnerungskonstrukteur Leon Nr. 1-2515/14 hat abgeschaltet. Rade, er ist tot!“, schnarrte sie.
Rade sank auf den Hintern, geschockt, die Augen schreckgeweitet: „Ich bin zu spät gekommen, Leon ist tot, tot…“, faselte er immer wieder, vollkommen von Emotionen umschlossen, die er nicht zu verarbeiten vermochte, nicht in diesem Augenblick. Seine Welt brach zusammen.
„Das tut mir fast schon leid, Dich so zu sehen Rade, ja Leon Nr. 1-2515/14 ist hier und jetzt auf Ebene 2 abgeschaltet und gestorben, er ist aus dem System gelöscht. Endgültig!“

Sie klang kalt, irgendwie hämisch und Rade verstand nicht, versank in seiner Trauer, als sich Jazz‘ Hand auf seine Schulter legte, ihn drückte, also wolle sie sagen ‚nicht schlimm, das wird schon wieder. 'Aber nichts würde wieder werden, die Erinnerungen waren jetzt da und schmerzhafter als je zuvor.
Jazz formulierte das Wort TOT mit einer Härte in der Stimme, mit einer Vehemenz, als ginge es um eine reine Maschine, nicht um ein fleischliches Wesen, seine Liebe, die gerade gestorben war.
„Rede nicht so, er war nicht nur Erinnerungskonstrukteur Leon Nr. 1-2515/14. Er war mein Leon und …“, ein Schluchzen schüttelte diesen großen starken Mann. „Ich habe ihn geliebt.“


***


Leise, krächzend, kaum verständlich flüsterte eine Stimme:
„Du liebst mich? Aber … ich bin eine Maschine aus Fleisch…“

Rade schrak auf, starrte in die bernsteinfarbenen Augen Leons, der ausgezehrt und müde, aber offenbar lebendig vor im lag.
„Was, wie…“
Die Welt stand für einen Augenblick still, alles fügte sich und Rade, der sich verstört umsah, er blickte eine Wärme und Liebe in Jazz Blick, der die Kälte von eben weggezaubert hatte: „Leon ist ein Mensch Rade, nur der Android ist tot, nicht der Mensch, ihr habt ein ganzes Leben vor Euch.“
„Ich war Erinnerungskonstrukteur Leon Nr. 1-2515/14, der Chip wurde abgeschaltet, für alle bin ich tot. Nur noch Fleisch, kein Chip mehr, ich bin … menschlich“, flüsterte Leon OHNE Nr. 1-2515/14.
„Und könnten wir jetzt aus dieser Leichenebene bitte verschwinden, Jazz? Rade?“, flüsterte er.
„Bevor ich es vergesse, Jazz und Matze, habt von Herzen Dank für Eure Hilfe, für das Hören meines Rufes, für alles. Und Dir Rade, danke ich ebenfalls, danke das Du mich und mein Herz gehört hast, obwohl ich Dein Hirn neutralisiert habe, um Dich zu schützen. Ein liebendes Herz kann man nicht löschen, das weiß ich nun und es hat mich gerettet und ein WIR erschaffen. Danke, ich liebe Dich.“

Lieber verbringe ich nur einen Tag mit Dir in Freiheit, als einen Tag ohne Dich in perfekter Sicherheit.

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