Stille Wacht
Vorbeitrag zur Blogtour "Emotiondancer"

 Immer wieder fasziniert mich die Weite und das unendliche Blau des Himmels in der höchsten Ebene Skyscrapes. Als die zuständige Abteilungsleiterin im Forschungsbereich der Empirik lenke und leite ich die Geschicke der Stadt durch Logik und Überwachung des Systems.
 Die digitale Vernetzung des Gefühlslebens ihrer Bewohner erleichtert meinen Job ungemein. Es gibt wenig relevante Ausfälle menschlicher Gefühle, oder sollte man sie besser Ausbrüche oder Auswüchse nennen? Mit der Gleichmütigkeit eines dahinplätschernden Flusses, wie es sie in Urzeiten einmal gegeben haben muss, ziehen die Leben der Bewohner Skyscrapes in einer dämmernden Zufriedenheit vorbei.
 Nichts anderes als die Wahrung dieses Zustandes ist meine Aufgabe.
 Hier auf der - wie ich es gerne nenne - Brücke des Mikrokosmos Skyscrape werden Emotionen wie Ware gehandelt. Jeder Mensch will gute Gefühle in sich tragen - genießen und erleben, was es bedeutet, zufrieden zu sein.
 Denn das sind die Menschen zweifelsohne: Zufrieden.
 Sie sind auf ihre eigene Art vernetzt und verankert in dieser Stadt. Sie erleben ihre kleineren und großen Glücksmomente, verursacht durch einzigartige Begebenheiten und Begegnungen in ihrem Leben.
 Das Cybernet ist eine wunderbare Erfindung dieser Zeit und schon einige Jahrzehnte in Betrieb. Tägliche Änderungen, Erneuerungen und Umprogrammierungen bestimmen meinen Arbeitsalltag hier über den Wolken. Als Lenker der Emotionen braucht man ein gutes Fingerspitzengefühl, um als Überwacher des täglichen Glücks eventuelle Probleme im Cybernet zu beheben - möglichst ohne dass es die Bewohner der Stadt mitbekommen.
 Während ich entspannt durch die Straßen schlendere, summe ich ein uraltes Lied vor mich hin, älter als ich, älter als Skyscrape und viel älter als das Cybernet.
 »Über den Wolken …«
 Ich erinnere mich, der Mensch hieß Reinhard Mey. Egal, Schall und Rauch …
 In meine friedlichen Überlegungen drängt sich auf einmal Lärm. Ich wende meinen Kopf und schaue auf eine Frau mit neongelbem Haar. Einer unserer Sicherheitsbeamten schiebt sie vor sich her.



 Negative Emotionen wehen zu mir herüber, vollkommen unnatürlich und so stark, dass es mich kurz straucheln lässt. Die Härchen meiner natürlichen Armseite stellen sich auf. Mein Körper spannt sich an, nimmt automatisch eine wachsame Position ein, während mich Unverständnis durchströmt. Ich spüre Abscheu, Wut und Hass, auch Angst und Trauer sowie viele andere negative Anwandlungen der 27 Emotionen umfassenden menschlichen Skala. Mit aller Kraft versuche ich, Zufriedenheit und Glück dagegen zu setzen, doch ich kann sie nicht ganz neutralisieren.
 »Geh weiter«, raunt der Beamte.
 Die Frau hält inne und versucht etwas zu sagen. Doch ihre Wut zerfließt plötzlich wie Nebel in der Sonne.
 »Scheint, als würde unser Direktor ihre Gefühle niederschlagen«, murmele ich. »Aber warum ist sie so aufgewühlt? Hier oben gibt es jeden Komfort, den man sich nur wünschen kann.«
Und Möglichkeiten der emotionalen … Ablenkung, denke ich weiter.
 Ich halte gebührenden Abstand, um nicht mehr dieser Emotionen abzubekommen – oder noch schlimmer: die Aufmerksamkeit des Sicherheitsbeamten auf mich zu ziehen. Mit einem Direktor ist nicht zu spaßen! Ich nutze meine kybernetischen Iriden, um mein Sichtfeld heranzuzoomen und mustere das Gesicht der Frau.
 Moment mal … ist das...? Nein keinesfalls, das wäre unmöglich. Kann es sein, dass … ? Wie hat diese Frau den Weg hierher gefunden? Das ist unlogisch und vor allem höchst gefährlich! Eine mir zwar nicht unbekannte, aber dennoch fast fremd gewordene Emotion zwingt mich zuerst zum Stillstehen, führt nahezu zum Erstarren und jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
 Ist das … Panik?
 Unwillkürlich versteife ich mich und versuche, mehr als ein paar wenige Wortfetzen herauszuhören. Ich habe zwar keine Optimierungen meines Gehörsinns, aber durch meine Position kann ich auf die Aufzeichnungen der System-Hologramme zugreifen. Wenige Sekunden zeitverzögert, erreicht das Gespräch meinen im Ohr steckenden Kommunikator. Schnaufend, den Kopf dabei ein wenig zwischen die Schultern gezogen, schiebe ich mich millimeterweise näher und richte alle Sinne auf diese Frau aus. Der Direktor ist offensichtlich voll mit ihren Gefühlen beschäftigt und ignoriert meine Präsenz.
 Der Sicherheitsbeamte erklärt wiederholt, dass sie diese Stadtebene verlassen muss. Ihren inneren Schmerz ignoriert er dabei völlig, doch mich überwältigen diese messerscharfen Gefühle beinahe, die wie Eisnadeln auf mich eindreschen.
 »... TAMRIAT schützt dich, aber nur, wenn du dich auch durchsetzen kannst«, höre ich den Direktor kühl sagen.
 Ich keuche auf, als mich die Erkenntnis jäh überrollt. War etwa das Vergessen durchbrochen worden? Waren diese verdammten Slider am Werk? Konnten sie … nein, unmöglich, die Firewalls sind unüberwindlich. Und sie müssen nichts verbergen, denn es gibt nichts zu finden in der Leere des Nicht-Wissens.
 Ich muss mich verstecken vor Ihr, vor den Gefühlen vor, und vor – ob sie mir etwas tun wird? Seit vielen Zeitaltern hatte ich das Bedürfnis nach Schutz, danach, das Atrium zu verlassen, gar nicht mehr. Mich zu verstecken, war keine Option und doch überrollt mich in diesem Moment nackte Angst.
 Endlich öffnen sich die goldenen Türen des Aufzugs. Der Beamte schiebt sich durch. Sie wirbelt herum, will auf den Platz rennen, doch eine Welle der Gleichgültigkeit fegt jeden Wunsch hinweg – auch bei mir. Kurz blicke ich mich orientierungslos um, frage mich, warum ich hier bin und warum ich überhaupt atme.
 Lebensmut fehlt. Sie zeigt keine Funken, ihre Seele ist still – und einen Moment auch meine.
 Die Tür schließt sich hinter den beiden und binnen Bruchteilen von Sekunden verschwinden diese fremden Gefühle. Es ist, als würde man ein Gewicht von meinen Schultern ziehen. Dennoch hallen sie in meinem Herzen nach. Ich werde ich den Gedanken nicht los, dass dieses Mädchen uns und den Plänen der Obrigkeit sehr gefährlich werden kann – sie muss beobachtet und im Falle des Falles eliminiert werden …
Das Wohl aller steht über dem Wohl des Einzelnen.



Dieses Wochenende startet unsere große Blogtour zum Roman "Emotiondancer!

Hier findet ihr den Fahrplan:
24.10. BREAKING NEWS bei Bibilotta
25.10. DIE NEUE MODERNE bei Mein Regal voller Regenbögen
26.10. DIGITALE EMPATHIE bei Gwynny’s Lesezauber
27.10. VERGISS NICHT bei Magische Momente
28.10. EVOLUTIONSSPRUNG bei Pummelfeechens Lesezimmer
29.10. SICHERHEITSBERICHT bei Bücher aus dem Feenbrunnen
30.10. INTERVIEW bei Charleens Traumbibliothek
31.10. Lostopf
01.11. Auslosung auf den Social Media Kanälen von E.F.v. Hainwald

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